Stammbaum der Moostierchen: Erfolgsfaktor elterliche Fürsorge

05.04.2022

Ein großes internationales Forscher*innen-Team unter Beteiligung von Andrey Ostrovsky und Javier Souto-Derungs vom Institut für Paläontologie der Universität Wien erstellt den bisher vollständigsten molekularen Stammbaum der Bryozoen oder Moostierchen. Demnach könnte eine der Gruppen von Moostierchen, die Cheilostomata, schon im Karbon, vor dem Zeitalter der Dinosaurier, entstanden sein. Zudem zeigte sich, dass die Moostierchen mehrfach elterliche Fürsorge entwickelt haben, was ihnen bei Umweltveränderungen einen Vorteil verschafft haben könnte.

sBryozoen, wörtlich: Moostierchen, sind alles andere als bekannt: Die kleinen Tiere, die in den meisten Gewässern vorkommen, leben häufig in Schlupfwinkeln und Felsspalten und sehen wie Moose oder Flechten aus. Die größeren unter den Moostierchen werden oft mit Korallen verwechselt, sind aber im Gegensatz zu "Feuerkorallen" (die ebenfalls keine Korallen sind), keineswegs gefährlich. Auch essbar sind sie für Menschen nicht – und sogar die Wissenschaft schenkte ihnen lange keine Aufmerksamkeit: Als sie entdeckt wurden, wurden sie nicht einmal als Tiere eingeordnet.

Wichtiger Bestandteil der aquatischen Umwelt

Dabei hätten zumindest die wissenschaftliche Aufmerksamkeit schon länger verdient: „Moostierchen sind seit Hunderten Millionen von Jahren ein wichtiger Bestandteil der aquatischen Umwelt – und alleine, dass sie so viele Umweltveränderungen überstanden haben, macht sie als Forschungsobjekte extrem interessant“, erklärt Andrey Ostrovsky vom Institut für Paläontologie der Universität Wien.

Er und sein Kollege Javier Souto-Derungs, ebenfalls Meeresbiologe und Bryozoologe an der Universität Wien, waren an einer internationalen Studie zur Entschlüsselung des Stammbaumes der Moostierchen beteiligt. Bisher war nicht bekannt, wie genau die verschiedenen Arten von Moostierchen miteinander verwandt sind. Nun, nach fast acht Jahren gemeinsamer Arbeit eines großen internationalen Wissenschaftlerteams, das sich aus 34 Forscher*innen aus 17 Ländern und 24 Instituten zusammensetzte und von einem Kernteam der Universität Oslo in Norwegen geleitet wurde, wurde im Journal Science Advances der bisher vollständigste Stammbaum der Moostierchen veröffentlicht, der ihre evolutionären Beziehungen zeigt. Die Forscher der Universität Wien spielten zum einen in Bezug auf Sammlung von Proben, zum anderen in der Entwicklung von Evolutions-Szenarien eine wichtige Rolle.

Wissen um die Verwandtschaft der Arten untereinander

Das Wissen um die Verwandtschaft der Arten untereinander öffnet viele Türen für verschiedene Forschungsfragen in Ökologie und Evolution. „Stellen Sie sich die Evolution von Viren vor – wenn wir nicht wüssten, wie die verschiedenen Stämme von SARS-CoV-2 miteinander verwandt sind, wäre es viel schwieriger zu verstehen, wie sich die Krankheit entwickelt hat, und wir könnten weniger gut vorhersagen, wohin sie sich entwickeln wird“, erklärt Lee Hsiang Liow, Professorin am Naturhistorischen Museum der Universität Oslo in Norwegen und Leiterin des internationalen Projektes. Das gleiche Argument gelte für Moostierchen: „Nur wenn wir wissen, wie die verschiedenen Bryozoen-Arten miteinander verwandt sind, können wir beispielsweise erforschen, wie diese Gruppe die Krisen überlebt hat, welche die Dinosaurier auslöschten.“

Moostierchen stellen ein großartiges „Modellsystem für das Verständnis der Evolution“, dar – das einzige Problem sei ihre Größe, die einzelnen Koloniemitglieder sind meist kleiner als ein Millimeter, die Kolonien meist zwischen einigen Zentimetern und einigen Dezimetern groß: „Es ist sehr schwierig, mit ihnen zu arbeiten, weil sie so klein sind“, sagt Liow, „deshalb haben wir auch so lange gebraucht.“

Schnorcheln, Tauchen, Baggern und vollautomatisiertes Sammeln

Über viele Jahre hinweg sammelte das internationale Team verschiedene Arten von Moostierchen aus der ganzen Welt: Es schnorchelte, tauchte, baggerte und setzte automatisierte unbemannte Fahrzeuge in großen Tiefen ein. In Oslo wurden die Proben schließlich digitalisiert und sorgfältig mit Hilfe der Rasterelektronenmikroskopie und anderen Methoden untersucht, um genetische Sequenzen abzuleiten. Dieser umfangreiche Datensatz mit Bilddaten, Metadaten zu den Proben und Sequenzinformationen ist nun öffentlich zugänglich und kann auch von anderen Forschungsteams genutzt werden.

Anhand dieses Datensatzes wurden im Rahmen der Studie die evolutionären Beziehungen von Hunderten von Moostierchenarten rekonstruiert. Dabei entdeckten die Wissenschafter*innen, dass diese Tiere die elterliche Fürsorge mehrfach und sehr früh in ihrer Evolutionsgeschichte entwickelt haben. Während viele Tiere auf unserem Planeten ihre Nachkommen ihrem eigenen Schicksal überlassen, brüten zahlreiche Moostierchen-Arten ihren Nachwuchs aus. „Diese elterliche Fürsorge könnte ihnen einige Vorteile verschaffen, die es ihnen ermöglicht haben, in den Ozeanen äußerst erfolgreich zu sein“, erklärt Ostrovsky von der Universität Wien. „Die molekularen Ergebnisse bestätigten auch meine Vorhersagen, die ich vor etwa zehn Jahren anhand von morphologischen Merkmalen gemacht hatte“, freut sich der Moostierchen-Experte.

Schon ab dem Karbon

Ebenso wurde im Rahmen der Studie entdeckt, dass eine der Gruppen von Moostierchen, die Cheilostomata, deren früheste Fossilien erst aus dem späten Jura bekannt sind, möglicherweise schon viel früher, im Karbon und damit vor dem Zeitalter der Dinosaurier, entstanden sein. „Dies deutet darauf hin, dass die frühen Vorfahren der lebenden Cheilostomata möglicherweise keine Skelette hatten“, so Emanuela Di Martino, Paläontologin und Bryozoologin am Naturhistorischen Museum in Oslo.

Die Wissenschaftler*innen hoffen, dass die Bryozoen zur Klärung allgemeiner unbeantworteter Fragen der Evolutionsbiologie beitragen können. „Und natürlich, dass mehr und mehr Menschen auf diese faszinierende Gruppe von Kolonialtieren aufmerksam werden“, sagt Ostrovsky von der Universität Wien.

Tentakelkronen einer Bryozoen-Kolonie in Fressposition. Foto: © Andrey Ostrovsky

Korallen kennt jeder, doch Moostierchen? Dabei sind diese viel weiter verbreitet und umfassen mehr Arten, sind allerdings meist kleiner als ein Milimeter. Im Bild die Tentakelkronen einer Bryozoen-Kolonie in Fressposition. Foto: © Andrey Ostrovsky

Andrey Ostrovsky. Foto: © Andrey Ostrovsky

„Moostierchen sind seit Hunderten Millionen von Jahren ein wichtiger Bestandteil der aquatischen Umwelt – und alleine, dass sie so viele Umweltveränderungen überstanden haben, macht sie als Forschungsobjekte extrem interessant“, erklärt Andrey Ostrovsky vom Institut für Paläontologie der Universität Wien." Die Forscher am Institut für Paläontologie sammelten im Rahmen der nun publizierten Studie Proben und entwickelten Evolutions-Szenarien. Foto: © Andrey Ostrovsky

Die Studie ergab, dass eine der Gruppen von Moostierchen, die Cheilostomata, deren früheste Fossilien erst aus dem späten Jura bekannt sind, möglicherweise schon viel früher, im Karbon und damit vor dem Zeitalter der Dinosaurier, entstanden sein könnte. Foto: © Andrey Ostrovsky

Zudem konnte nachgewiesen werden, dass Moostierchen die elterliche Fürsorge mehrfach und sehr früh in ihrer Evolutionsgeschichte entdeckt haben - was ihnen einen evolutionären Vorteil verschafft haben könnte. Im Bild: Aufgerichtete Kolonie von Bicellariella ciliata. Foto: © Andrey Ostrovsky